Gibt es die Willensfreiheit?

Sich selbst „Ich“ nennen, dies tun auch 7,2 Milliarden anderer Menschen. Doch wie entsteht dieses „Ich“? Ist es im Gehirn lokalisierbar? Für die meisten ist es selbstverständlich „eigene“ Entscheidungen zu treffen. Schließlich gibt es die Willensfreiheit des Menschen, die es ermöglicht frei und bewusst zu entscheiden. Oder nicht?
Bereits in den 80 Jahren veröffentlichte Benjamin Libet erste Ergebnisse seiner Experimente, die die Willensfreiheit des Menschen in Frage stellen sollten. Für das Experiment hatten die Versuchspersonen den Auftrag leichte Handbewegungen zu einem beliebigen Zeitpunkt auszuführen. Mit Hilfe einer speziellen Uhr sollten die Probanden sich den genauen Zeitpunkt merken, in dem sie den Entschluss fassten ihre Hand zu bewegen. Dabei wurden sowohl der Zeitpunkt der Bewegung als auch die Hirnaktivitäten der Versuchsperson unabhängig voneinander gemessen. Das Ergebnis war erstaunlich, denn im Gehirn der Versuchspersonen wurden bereits etwa eine halbe Sekunde vor dem bewussten Willensakt Aktivitäten im Gehirn gemessen. Circa 0,2 Sekunden später kam es dann erst zu der eigentlichen Handbewegung. Das Gehirn entschied sich also fast eine ganze Sekunde vorher für die Handlung, bis sie schlussendlich ausgeführt wurde. [1]
Modernere Experimente, welche von John-Dylan Haynes durchgeführt wurden, verschärfen Libets Befunde sogar. Er entwickelte ein Experiment, dass Dank der weiterentwickelten Technik und neuer Methodik noch genauere Messwerte hervorbrachte. Bei diesem Experiment wurden Testpersonen zunächst in einen Kernspintomografen geführt und bekamen in beide Hände einen Knopf. Nun hatten sie ähnlich wie bei Libets Experiment die Aufgabe sich zu einem beliebigen Zeitpunkt für den linken oder rechten Knopf zu entscheiden und diesen zu tätigen. Mit Hilfe von einem Bildschirm, der jede halbe Sekunde einen anderen Buchstaben zeigte, konnten die Probanden sich den genauen Zeitpunkt des Entschlusses merken. Auch hier zeigte das Experiment ähnliche Ergebnisse. Nur diesmal handelt es sich nicht um eine, sondern gleich um etwa 10 Sekunden, in denen das Gehirn unterbewusst eine Entscheidung einleitete. Ihnen gelang auf diese Weise sogar den Entschluss der Probanden, nämlich ob sie den linken oder rechten Knopf betätigen, vorherzusagen! [2]
Dies kann nun auf mehre Weisen interpretiert werden. Einerseits könnte man behaupten, dass das Gehirn den „Willen“ einleitet, bevor es der Mensch selbst als bewussten Willen wahrnehmen kann. Das heißt, wenn ich nun das „E“ auf meiner Tastatur drücken will und diese Entscheidung bereits eine halbe Sekunde, bevor ich überhaupt bewusst von ihr erfahre in meinem Gehirn eingeleitet wurde, dies nicht meine Handlung sein kann! Diese Handlung hat nämlich nichts mit meinen bewussten Überzeugungen zu tun, denn sie passiert abseits meiner subjektiven Überlegungen. Das Gehirn würde somit, getrennt von meiner Person handeln. Diese Überlegung findet oft Verwendung, wenn es darum geht, die Willensfreiheit des Menschen zu widerlegen.
Naturalisten sind da jedoch anderer Meinung. Die Hirnforschung zeigt, dass psychische Leistungen durch neuronale Prozesse im Gehirn ausgelöst werden. Wenn mein Gehirn also 10 Sekunden vor mir „weiß“, dass ich nun das „E“ auf meiner Tastatur drücken möchte, ist das aus naturalistischer Sicht kein Beweis dafür, dass es die Willensfreiheit nicht gibt, denn beides, sowohl die unbewusste Entscheidung im Gehirn sowie die bewusste Wahrnehmung des eigenen Willens, sind neuronale Prozesse des Gehirns. Das Gehirn ist Teil unserer Person genauso wie das Unterbewusstsein. Dieser Ansicht nach wäre es also mein Gehirn, das ein Willensprozess einleitet, somit im Umkehrschluss mein Wille und meine Handlung. Die Experimente würden in diesem Fall nur beweisen, dass die Entscheidungsprozesse die vorab im Gehirn stattfinden, nicht vollständig bewusst sind.
Bei dieser Überlegung bilden sowohl das Bewusstsein als auch das Unterbewusstsein eine Einheit und sind damit beide Teil unseres Gehirns, welches wiederum Teil unserer Person ist. Das klingt aus meiner Sicht plausibel.
John-Dylan Haynes, sagte selbst während einer Konferenz, dass in diesem Bereich nur etwa eine Handvoll Experimente durchgeführt wurden. Man muss also vorsichtig mit der Auswertung dieser Experimente sein. Keineswegs könnte man mit solch dünner Datenlage zu 100% beweisen, dass das Gehirn determiniert, also alle künftigen Entscheidungen vorherbestimmt sind. Jeder sollte an dieser Stelle seine eigene Wahl treffen. Die Vermutung, dass unser Geist immateriell ist und ohne messbare Wechselwirkung mit dem Gehirn kommunizieren kann, ist jedoch vor allem mit der heutigen Sicht der Naturgesetze nicht kompatibel. [3]
Die Frage nach der Willensfreiheit ist also mit beiden Experimenten nicht vollends geklärt. Es macht jedoch ziemlich deutlich, dass psychische Vorgänge eine Folge von Aktivitäten im Gehirn sind und nicht Ihre Ursache und dass unser Unterbewusstsein unser Bewusstsein zu einem enorm großen Teil kontrolliert, auch wenn wir das Gefühl haben wir sind eigentlich der Herr im Haus.
Auch wenn die Hirnforschung unser „Ich“ nicht klar lokalisieren kann, da es sich aus vielen Komponenten zusammensetzt, kann doch ziemlich eindeutig bewiesen werden, dass das Selbstbild aus biochemischen Prozessen im Gehirn entsteht. Auch wenn es nicht greifbar ist, wird es doch materiell erzeugt. Zumindest macht unser momentaner Kenntnisstand relativ klar deutlich, dass nach dem Tod, also auch mit dem Verfall des Gehirns, ein Leben mit dem uns bekannten Selbstbild, also als Person ausgeschlossen ist. In der Vergangenheit wurde oft vermutet, dass der Geist losgelöst von unserem Körper existieren kann. Fälle von Hirnerkrankungen wie Alzheimer machen jedoch sehr klar deutlich, dass es sich dabei um eine Illusion handeln muss. Bei dieser Krankheit sterben Nervenzellen ab und verursachen bereits vor dem biologischen Tod eine Veränderung der Wesenszüge. Auch der Fall Gage, bei dem Phineas Gage nach einem Arbeitsunfall Verletzungen am Gehirn erlitt und das Verantwortungsgefühl verlor, beweist ziemlich eindeutig, dass Veränderungen am Gehirn, auch Auswirkungen z.B. auf das Sozialverhalten haben können.
Ist es also auch so, dass unser bewusst wahrgenommenes „Ich“ von diesem Unterbewusstsein bestimmt wird? Wenn eine Handbewegung unterbewusst eingeleitet werden kann, klingt es nur logisch, dass zwischenmenschliche Entscheidungen und Gedanken auch unterbewusst eingeleitet werden können!
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Quellen:
[1] Wikipedia: Libet-Experiment, http://de.wikipedia.org/wiki/Libet-Experiment (Version vom 15.07.2014)
[2] Carolin Sprenger und Jeanne Gevorkian, Hirngespinst Willensfreiheit http://www.spektrum.de/alias/r-hauptkategorie/hirngespinst-willensfreiheit/968930 (Version vom 15.07.2014)
[3] Dr. Christian Wolf: Die Willensfreiheit – ein Irrtum?, http://dasgehirn.info/aktuell/hirnschau/die-willensfreiheit-ein-irrtum-3859/view/ (Version vom 15.07.2014)
www.dasGehirn.info – ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e. V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.